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Bora Cocic

„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“ – so lautet der erste Satz von Franz Kafkas Roman „Der Process“. Eine ähnliche Erfahrung muss der 1932 in Zagreb geborene, in Belgrad aufgewachsene Schriftsteller Bora Cocic gemacht haben. Denn im Jahr 1972 waren seine Bücher plötzlich aus den Buchhandlungen verschwunden, in den Zeitungen erschienen ganzseitige Artikel über den destruktiven Ton seines Schreibens, aber „natürlich“ sei er nicht verhaftet worden: „Unser Kommunismus war schließlich ‚rosa-rot‘, sehr im Gegensatz zu dem in Bulgarien oder Albanien.“

Cocic zog sich für ein halbes Jahrzehnt in die „innere Emigration“ zurück – und schrieb und schrieb. Am Freitag, den 23. Oktober 2015 wird er um 20 Uhr im Lesesaal der Stadtbücherei aus dem Roman lesen, der in jener „Zeit der Illegailtät“ (Brecht) entstanden ist, es ist einer der großen Romane der europäischen Weltliteratur. Unter dem Titel „Die Tutoren“ ist er jetzt in der sprachmächtigen Übertragung von Brigitte Döbert erschienen.

Cocic, der 2002 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung , 2008 zusammen mit seiner Übersetzerin Katharina Wolf-Grießhaber (aus Münster) mit dem Albatros Literaturpreis der Günter-Grass-Stiftung Bremen und 2011 mit dem Internationalen Stefan-Heym-Preis der Stadt Chemnitz ausgezeichnet worden ist, lebt heute in Berlin und Rovinj (Istrien).

Was für Irland Joyces „Ulysses“, ist für Serbien „Die Tutoren“: ein fast unübersetzbares Meisterwerk voller Wortspiele und Stilbrüche, ein experimentelles Labor der Sprache – aber dabei hochkomisch! Im Mittelpunkt steht eine in Slawonien angesiedelte Familienchronik, die auf vielfältige Weise erzählt wird: anhand einer Rauferei in einer Kneipe, in Form eines Lexikons oder als Beratungsgespräch in einer Buchhandlung. Dabei hat der Erzähler als leidenschaftlicher Sammler kurioser Phänomene ein besonderes Augenmerk für Alltagsdinge. Cocic bietet alles auf, womit sich nationalistische Mythen und Ideologien jeglicher Couleur lächerlich machen lassen: Ausgehend von einem rebellischen orthodoxen Priester des 19. Jahrhunderts über tatkräftige unternehmerische Frauen bis hin zu einem namenlosen Autor spannt er einen Bogen über 150 Jahre europäischer Geschichte.

Die Schriftstellerin und Übersetzerin Alida Bremer aus Münster, Ko-Moderatorin und Dolmetscherin der Lesung, hat den Roman so charakterisiert: „Die Hauptprotagonistin des Romans ist die Sprache, und sie begibt sich in waghalsige Abenteuer. Er ist eine ins Lustige verdrehte „Summa“ aller menschlichen Erfahrungen, aller gelernten, gesehenen und gehörten Dinge, die ein gelehrter Spaßvogel am Rande Europas und am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts als ein totales Buch vorlegt. Er ist ein Meisterwerk.“