Thomas Hettche
Nachdem er im September den ersten Platz der SWR-Bestenliste belegt hatte, gehörte er zu den Favoriten des Deutschen Buchpreises, und er ist nur knapp geschlagen worden: der 1964 geborene Thomas Hettche, der zuletzt mit seinem Roman Der Fall Arbogast - dieser Rekonstruktion und Revision eines Kriminalfalls aus den 50er Jahren - respektvolle Aufmerksamkeit gefunden hat. Am Freitag den 10. November wird er um 20 Uhr im Lesesaal der Stadtbücherei aus seinem neuen Roman lesen: Woraus wir gemacht sind. Es ist ein Buch, an dem sich die Rezensenten so sehr geschieden haben, dass sich Ulrich Greiner in der Zeit zu einer kleinen Verteidigung des neuen Romans von Thomas Hettche gegen seine großen Kritiker veranlasst sah. Wichtiger als Greiners literaturkritische Argumentation ist sein präziser Hinweis auf die Schnitt-Technik des Romans, die sehr viel mehr bedeutet als jenes sinnliche szenische Erzählen, das gemeinhin unter filmisch verstanden wird. Der Streifen, den Thomas Hettche erzählt, verbindet die klassischen Elemente eines Trivialkrimis mit der Dynamik eines road-movies. Sein Protagonist, der vierzigjährige Biograph Niklas Kalf, recherchiert die Lebensgeschichte des jüdischen Emigranten Eugen Meerkaz und reist mit seiner schwangeren Frau Liz zum ersten Mal nach New York. Doch schon am dritten Tag in der Stadt, die gerade den ersten Jahrestag der Anschläge auf das World Trade Center begeht, verschwindet Liz spurlos. Ein erpresserischer Anruf bestätigt den Schock: Liz ist entführt worden, und Kalf wird gezwungen, Material zu beschaffen, das mit einem dunklen Geheimnis im Leben von Eugen Meerkaz zu tun hat: Keine Polizei, ein Mann allein. Indes, was eine solche Klappentextur mitteilen kann, reduziert den Roman auf seine Handlung. In Wirklichkeit wird aus Kalfs weniger verzweifelter als benommener Suche - die sich räumlich und zeitlich surreal ausdehnt -, nicht nur ein Trip ins Innere der USA am Vorabend des Irak-Kriegs, sondern auch eine existentialistische Suche nach dem verlorenen Ich: Woraus sind wir gemacht? In einem so rasanten wie riskanten Wechsel von hinreißendem Pointilismus und atemberaubendem Panorama, amerikanischem O-Ton und deutschem Tiefenschwindel, den Rissen zwischen der Thriller-Oberfläche und einem Subtext, der von Ovid stammt, demonstriert Hettche zugleich die Notwendigkeit und die Unmöglichkeit, die Bestände des alten Europa dem neuen Rom der Vereinigten Staaten zu konfrontieren. Ulrich Greiner hat schon recht, wenn er sagt: Es sind Kinobilder, es sind Einstellungen wie aus einem Film von Jim Jarmusch oder Wim Wenders, wo eine Totale plötzlich mehr bedeutet als die Geschichte, die erzählt werden soll, wo eine Begegnung scheinbar ganz wegführt von der Handlung, wo zuweilen eine Stille entsteht, die poetische Kraft besitzt, ohne dass wir zu sagen vermöchten, worin ihr Sinn genau liegt.