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Tomas Lieske

Kaum eine europäische Literatur ist in Deutschland so präsent wie die niederländische. Und doch gibt es dann und wann einen Autor, der die einschlägigen Erwartungen düpiert. Das war vor einigen Jahren so, als von Charlotte Mutsaers der (viel zu wenig beachtete) Roman "Rachels Röckchen" erschien, und jetzt ist es Tomas Lieske, dessen Roman „Franklin“ im letzten Jahr in deutscher Übersetzung erschien. Als Poet ist Tomas Lieske für das das Münsteraner Publikum kein Unbekannter: Beim letzten Lyrikertreffen hat er für seine Gedichte sogar Szenenapplaus bekommen. Am Mittwoch, den 2. November wird Tomas Lieske um 20 Uhr im Lesesaal der Stadtbücherei aus seinem neuen Roman lesen: „Gran Café Boulevard“. Es ist ein aberwitziges Stück Prosa, deren epische Phantasie ebenso betört wie ihre Sprachmacht.

Erzählt wird der bizarre Lebenslauf eines Taco Albronda. Ende der zwanziger Jahre kommen dessen Eltern bei einem Autobrand ums Leben, drei Jahre später verschwinden seine Schwestern spurlos Während sein Bruder Fedde auf dem elterlichen Anwesen zurückbleibt, wo er zunehmend verwahrlost, flieht Taco nach Paris. Dort nimmt eine neue Identität an. Er heißt nun Alexander Rothweil und verdient sich als professioneller Dokumentenfälscher und Hochstapler seinen Lebensunterhalt. Im Nachtzug nach Bilbao trifft er im Sommer 1944 auf die junge Pili Eguren, die im spanischen Bürgerkrieg ihre Eltern verloren hat. Vier Jahre später, nachdem sie sich im Gran Café Boulevard in Bilbao wiederbegegnet sind, beginnen beide eine so leidenschaftliche wie unbeherrschbare Beziehung. Als Tacos falsche Identität 1951 entdeckt zu werden droht, fliehen sie vor Francos Regime über Paris zurück nach Holland und finden Unterschlupf bei dem nun vierunddreißigjährigen Fedde. Doch Holland ist ein sinistrer Unort. Pilis und Tacos Reise endet im Strudel verstörender Erinnerungen an das Vergangene: „Taco war klar, dass ihm Alexander Rothweil abhanden gekommen war, und zugleich fürchtete er, dass nur Alexander Rothweil Pili zurückgewinnen könne.“ In zahllosen Rückblenden führt Tomas Lieske den Leser in die Lebensgeschichten und das komplexe Beziehungsgeflecht seiner Figuren ein. Quer zu diesen epischen Strängen stehen ekstatische Bilder: Als Taco einmal gegen ein Stuhlbein stößt, nimmt der Stuhl eine andere Stellung zum Tisch ein, „als wäre er ein aufgescheuchter Partisan, der vor einem blitzenden Messer zur Seite springt und gleichzeitig in Angriffshaltung geht.“ Und als Fedde eine beschädigte Tapete repariert, sieht die Wand bald aus „wie ein schlecht geheiltes, in Wut oder Verzweiflung zerrissenes Hochzeitsfoto.“ Solche Metaphern sind keine eitlen Lyrismen des Autors. Vielmehr sind es Möglichkeiten des Erzählers, die Innenwelten seiner Figuren auf eine ähnliche Weise plastisch werden zu lassen, wie es die äußere Handlung „ohnehin“ bereits ist.