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Abdulrazak Gurnah

Abdulrazak Gurnah, Das verlorene Paradies, aus dem Englischen übersetzt von Inge Leipold, München, Verlagsgruppe Penguin Random House, 2021, 337 S., 25 €, e-book 17,99 € (Paradise, London, Hamish Hamilton, 1994)

Nach dem lebhaften Auftakt des „Literarischen Salons“ im Mai widmet sich das zweite Gespräch über Bücher dem Roman Das verlorene Paradies des Literaturnobelpreisträgers von 2021, Abdulrazak Gurnah (geb. 1948). Als im November die Auszeichnung verkündet wurde, herrschte unter deutschen Kritikern zunächst Ratlosigkeit. Kaum jemand kannte den seit vielen Jahrzehnten in England lebenden Autor aus Sansibar, seine Bücher waren in Deutschland nicht mehr lieferbar. Das hat sich inzwischen teilweise geändert, jetzt sind sie in Übersetzungen neu zu entdecken.

Das verlorene Paradies ist ein Entwicklungs- oder Coming-of-Age-Roman. Die Geschichte beginnt in Tansania/Ostafrika, es ist die Zeit um 1900. Der kaum 12-jährige Yusuf, ein auffallend schöner Junge, wird von seinem hoch verschuldeten Vater an „Onkel Aziz“, einen reichen Geschäftsmann, verkauft. Von dessen Laden aus und auf Streifzügen durch die neue Umgebung lernt er die multiethnische und -kulturelle Gesellschaft am Indischen Ozean kennen. Hier leben arabische Händler, indische Kaufleute, afrikanische Bauern, Koranlehrer und christliche Missionare miteinander und gehen ihren jeweiligen Interessen und Tätigkeiten nach. Jusuf beginnt zu arbeiten und schließt Freundschaften, schaut verstohlen in einen ummauerten Garten und bekommt eine Ahnung von der Welt der Männer und Frauen. Nach einer gewissen Zeit nimmt Aziz den Jungen mit auf eine Karawane ins Innere des Kontinents. Was als aufregendes Abenteuer beginnt, endet als verstörende Erfahrung. Ganz am Ende sieht Yusuf einen deutschen Offizier und weiß augenblicklich, dass nichts mehr so sein wird, wie es war.

Abdulrazak Gurnah entfaltet ein staunenswertes historisches und kulturelles Panorama. In vornehmlich klassischer Erzählweise und einer bildreichen, zugleich direkten und klaren Sprache zeigt er eine für uns überraschende, ferne Welt von vorgestern. Es würde wohl zu kurz greifen, Gurnah auf ausschließlich postkoloniale Denkmuster und Zuschreibungen festzulegen. Denn er schärft mit seinen Geschichten nicht nur den Blick für die Folgen der Kolonialisierung durch europäische Staaten, sondern auch für Spannungen, Hierarchien und Rassismen, die weit in die Vergangenheit des afrikanischen Kontinents zurückreichen.

Moderation: Christian von Tschilschke, Walburga Hülk-Althoff

Gast des Abends: Dr. Felipe Espinoza Garrido (Englisches Seminar der Universität Münster)