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Marica Bodrožic

Themen wie Flucht, Asyl, Exil scheinen von Tag zu Tag aktueller und bedrückender zu werden – und das weltweit! Da mag es geraten sein, nicht nur die allgemeine historische und politische Dimension des Themas zu reflektieren, sondern auch das, was es „mit einem macht“. Die Schriftstellerin Marica Bodrožic hat ihre eigene Erfahrung und Auseinandersetzung mit dem Thema konkretisiert, indem sie buchstäblich – zu Fuß – den Spuren gefolgt ist, die der deutsche Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin (1892 bis 1940) auf seiner Flucht vor den Nazis hinterlassen hat. Am Montag, den 28.11.2022 wird Marica Bodrožic um 20 Uhr im Theatertreff (Neubrückenstraße 63) aus ihren „Seelentelegrammen“ lesen, die in diesem Jahr unter dem Titel „Die Arbeit der Vögel“ erschienen sind.

Marica Bodrožic, geboren 1973 im Hinterland von Split, Dalmatien, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr wurde Marica Bodrožic von ihrem Großvater in Svib in der Nähe von Split aufgezogen. 1983 zog sie nach Hessen und besuchte dort die Schule. Ab diesem Zeitpunkt erlernte sie die deutsche Sprache. In ihrem autobiografischen Buch „Sterne erben, Sterne färben“ schildert sie ihr poetisches und poetologisches Verhältnis zu ihrer, wie sie es nennt: „zweiten Muttersprache“, die auch die Sprache ihrer Literatur geworden ist.

Marica Bodrožic ist vielfach ausgezeichnet worden: 2015 mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, 2017 mit dem Preis der Ricarda Huch-Stiftung, 2020 mit dem Walter Hasenclever-Literaturpreis, 2021 mit dem Manès Sperber-Preis.

Auf der Flucht vor den Deutschen gelangt Walter Benjamin im September 1940 über einen alten Schmugglerpfad vom französischen Grenzort Banyuls-sur-Mer ins nordspanische Portbou. Tags darauf setzt er seinem Leben ein Ende. Acht Jahrzehnte später nimmt Marica Bodrožic den letzten Weg des großen deutschen Schriftstellers und Philosophen zum Anlass, um über unsere Zeit, die Komplexität von Lebensläufen und Identität, Freundschaft und Flucht nachzudenken. Kunstvoll webt Marica Bodroic in ihren Gedankenstrom die Schicksale auch anderer Intellektueller ein, die der Gewalt des 20. Jahrhunderts ausgesetzt waren – etwa der Widerstandskämpferin Lisa Fittko oder des Dichters Ossip Mandelstam.

So ein Unternehmen sei der für Gedankenbilder und schillernde Begriffspoesie bekannt gewordenen Autorin wie auf den Leib geschnitten, befindet Joseph Hanimann in der Süddeutschen Zeitung: „Das Nachdenken über Verfolgung, Gefangenschaft, Widerstand, Exil stellt sich ihr im Rhythmus des Ein- und Ausatmens ein, beim bald beschwerlichen, bald beglückenden Aufstieg über den Pyrenäenweg.“




Kaum eine Literatur-Preis-Jury ist prominenter besetzt als diejenige, die über den Hermann Lenz Preis und die Stipendien zum Hermann Lenz-Preis entscheidet. Als Jahr 2001 Peter Hamm, Michael Krüger und Peter Handke sich dafür entschieden, Marica Bodrožic ein Stipendium zu geben, stützten sich die Juroren lediglich auf ein paar verstreut abgedruckte Erzählungen der jungen Autorin. Heute kann die 1973 geborene, bis zu ihrem zehnten Lebensjahr in Dalmatien aufgezogene, seit 1983 in Deutschland lebende Marica Bodrozic fast schon auf ein Oeuvre zurückblicken: drei Gedichtbände, zwei Bände mit Erzählungen und ein Roman.

Am Montag, den 23. Juni wird sie um 20 Uhr im Lesesaal der Stadtbücherei aus ihrem neuen Erzählungsband lesen. Marica Bodrožic hat Essays über Autorinnen und Autoren wie Nazim Hikmet, Anne Sexton, Robinson Jeffers, Dubravka Ugresic, Danilo Kis, Joseph Brodsky und Marina Zwetajewa geschrieben, und sie ist auch als Übersetzerin tätig; zuletzt übertrug sie aus dem Kroatischen den Roman des aus Sarajevo stammenden Autors Igor Stiks "Die Archive der Nacht". Soeben ist sie mit dem „Initiativpreis Deutsche Sprache“ Bodrožic ausgezeichnet worden: „für ihre schriftstellerischen Leistungen, namentlich aber für ihre sensiblen und berührenden Reflexionen über die reichen Ausdrucksmöglichkeiten, die ihr die deutsche Sprache, ihre zweite Sprache, bietet“.
Wie Feridun Zaimoglu, der vor ein paar Wochen Gast des Literaturvereins war, gehört Marica Bodrozic mithin zu jenen Autoren, die – ausländischer Herkunft – die deutsche Sprache und Literatur unbefangen und eigensinnig bereichern: Ihre 2007 erschienene autobiographischen Prosa „Sterne erben, Sterne färben“ gibt darüber Auskunft. In der F.A.Z verneinte Walter Hinck die Frage, ob sich in diesem Prosaband eine Theorie der Einwanderung in eine fremde Sprache verberge: „Denn diese Prosa ist durch und durch poetisch, ja, sie wirkt in ihren Bildern manchmal sogar überhitzt. Aber sie schafft eben auch einen ‚Echoraum’, in dem Wörter wie ‚Herz’ oder ‚Stern’ aus ihrer Verschlissenheit erlöst, in ihrer alten Unbefangenheit wieder sagbar werden.“ Im letzten Jahr wurde in 3sat ein autobiographischer Dokumentarfilm ausgestrahlt, den Marica Bodrozic zusammen mit der Filmemacherin Katja Gasser gedreht hat: „Das Herzgemälde der Erinnerung. Eine Reise durch mein Kroatien".
Auch der neue Erzählungsband trägt einen Titel mit poetischem Wallungswert: „Der Windsammler“. Einmal steht die Erzählerin auf den Verteidigungsmauern der Altstadt von Dubrovnik: „Ich fragte mich, wer die zweihundert verschiedenen Kakteenarten aus Amerika und Australien nach Lokrum gebracht hatte, und der Wind kam auf, draußen und in mir selbst, an der Stelle, an der die Sehnsucht im Menscheninneren an einem Hafen, an eigenen Schiffen und Schiffsmasten baut. Immer kam der Wind auf, wenn ich mir solche Fragen stellte und die Ankerplätze der Sehnsucht mich streiften.“ Sätze, die nicht Wirklichkeit poetisieren, sondern Sprache verwirklichen: „In eine vollkommen sprachlose Welt bin ich hineingekommen und musste diese Sprache neu lernen, aber auch abgleichen mit meinen inneren Empfindungen, mit meiner Gefühlswelt auch, und so ist das Deutsche für mich eine sehr tief gefühlte Sprache geworden, für mich überhaupt keine Kopf-Sprache, sondern eine körperlich gefühlsmäßig erlebbare, tief in mir verankerte Sprache.