Harald Weinrich
„Haben oder Sein“ – so heißt das Buch des Psychoanalytikers Erich Fromm (1900–1980), das vor dreieinhalb Jahrzehnten erschienen ist. Der auf Hamlets „Sein oder Nichtsein“-Frage anspielende Titel hat sich vom Namen seines Verfassers gelöst und ist längst zu einem geflügelten Wort geworden: Ausbeutung und Konsumismus oder Teilhabe und Nachhaltigkeit!
Der in Münster lebende, vor einigen Wochen 85 Jahre alt gewordene Sprachwissenschaftler Harald Weinrich – vielfach ausgezeichnet und Mitglied verschiedener europäischer Akademien – hat Erich Fromms politisch und moralisch korrektes Plädoyer für das Sein nicht pauschal zurückgewiesen, sondern ihm „33 Ansichten“ entgegengestellt: „Über das Haben“. So lautet der Titel seines neuen Buches, aus dem Weinrich am 6. November um 20 Uhr im Lesesaal der Stadtbücherei lesen wird. Harald Weinrich geht davon aus, dass „ein Mensch, wie ihn die Philosophen suchen, eben doch nicht nur an dem zu erkennen ist, was er NICHT HAT, sondern weit eher an dem, was er HAT“. Und darunter will Harald Weinrich neben dem materiellen auch das immaterielle Haben verstanden wissen. In unangestrengten Miniaturen präsentiert er uns die unterschiedlichsten Lebens- und Denkerfahrungen, wie sie im Laufe der Zeiten mit dem HABEN gemacht und dokumentiert worden seien: „also als eine KUNST DES HABENS, die allerdings eine KUNST DES NICHT-HABENS umschließen muss.“ Harald Weinrich stützt sich auf sprachwissenschaftliche und philosophiegeschichtliche Befunde – und immer wieder, mit einer beflügelten Belesenheit, auch auf epische, dramatische und lyrische Texte. Mal vergleicht er die „Sterntaler“ der Brüder Grimm mit Andersens Märchen vom nackten Kaiser, mal liest er Zeile für Zeile Günter Eichs „Inventur“ aus dem Jahr 1945 und ein „federleichtes Gedicht“ von Emily Dickinson, mal untersucht er, wie Robinson Crusoe „das Soll und Haben“ lernt, und einmal sieht er in Gottfried Kellers „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ eine literarische Fallstudie über den ökonomischen Wandel im 19. Jahrhundert. Es gebe ab und zu Bücher, die – von niemandem erwartet – gleichsam aus dem Nichts auftauchten, so beginnt in der Wochenzeitung „Die Zeit“ eine Rezension von Weinrichs „Ansichten“: „Und doch, wenn sie dann da sind, drängen sie unauffällig ins Zentrum, weil sie unsere Zeit letztlich genauer beleuchten können als vieles von dem, was das tagtägliche Grundgeräusch an Debatten und Diskussionen, Meinungen und Argumenten so bietet.“ Weinrich lesen! Und hören!