Anna Tüne
Im Frühjahr hatte beim Literaturverein die seither mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnete Anna Grjasnowa gelesen; sie war 1996 als jüdischer „Kontigent-Flüchtling“ nach Deutschland gekommen. Und Anfang November hat Harald Weinrich den Quellgrund seines wissenschaftlichen und literarischen Lebenswerkes auch in seiner französischen Kriegsgefangenschaft verortet. Die letzte Lesung des Literaturvereins in diesem Jahr präsentiert ein Buch, das mit dem einen wie dem anderen zu tun hat. Am Donnerstag, den 29 November 2012 wird um 20 Uhr im Lesesaal der Stadtbücherei Anna Tüne aus ihrem vor zwei Jahren erschienenen Buch lesen:
„Von der Wiederherstellung des Glücks. Eine deutsche Kindheit in Frankreich“. Es ist ein Buch, das eine bizarre Episode der deutsch-französischen Nachkriegsgeschichte veranschaulicht: Wenige Jahre nach Kriegsende hat ein längst in Vergessenheit geratenes Siedlungsprogramm der französischen Regierung deutsche Flüchtlinge und Vertriebene aus verschiedenen europäischen Ländern nach Frankreich gebracht, um die vielen durch Landflucht brachliegenden Flächen zu rekultivieren. So hat es die aus Posen stammende deutsche Familie der 1950 in Höxter geborenen Autorin auf einen Bauernhof im Südosten Frankreichs verschlagen, ganz in die Nähe einer Kleinstadt, deren ziviler Widerstand gegen die deutschen Besatzer als „Wunder von Dieulefit“ in die Geschichte eingegangen ist. Sandra Schmidt hat In der Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog „Dokumente/Documents“ Anna Tünes „Wiederherstellung des Glücks“ so gewürdigt: „Anrührend, ohne falsche Sentimentalität erzählt Anna Tüne Alltagsgeschichten einer schwierigen Integration. Die französischen Nachbarn, die sich nur allzu gut an die Erniedrigungen und Grausamkeiten während der Okkupation erinnerten, reagierten mit Misstrauen und Abwehr auf die deutsche Familie. Es gab auch herzliche Aufnahme, nicht selten von Menschen, die in der Résistance aktiv gewesen waren. Während die Mutter mit ihrem Gesang von „O Haupt voll Blut und Wunden“ die Kirchengemeinde beeindruckte und die Einheimischen Schritt für Schritt den Vater als Bauer zu akzeptieren lernten, durchlebten die Kinder in der Schule viele Formen der Ablehnung und des Fremdseins.“ Aber das Buch ist mehr als ein Dokument. In ihrem Nachwort betont Anna Tüne, es sei weder eine Autobiografie noch stelle es Memoiren dar: „Man könnte es eine hypothetische Autobiografie nennen, in die viele authentische, aber auch konstruierte Elemente eingeflossen sind.“ Die Autorin ist sich bewusst, dass „die Einvernahme des Lebens realer Personen in einen Text“ durchaus auch als eine Enteignung empfunden werden könne. Im Buch selbst wird diese methodisch und politisch empfindsame Rechtschaffenheit unterstützt durch den beweglichen Wechsel sprachlicher Register: Porträtskizze, Bericht, einmal eine „Fragenliste“, poetische Prosagedichte. Auf diese Weise gelingt es Anna Tüne, das Glück einer deutschen Kindheit in Frankreich wiederherzustellen.