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Esther Kinsky

Als ein wunderbares Postscriptum zum Münsteraner Filmfestival, das vor vierzehn Tagen zu Ende gegangen ist, kann man ein Buch schätzen, das einen Titel trägt, der räumlich wie zeitlich zu verstehen ist. In „Weiter sehen“ erzählt Esther Kinsky von der unwiderstehlichen Magie des Kinos, eines Ortes, „wo Witz, Entsetzen und Erleichterung ihren gemeinschaftlichen Ausdruck fanden, ohne dass die Anonymität im dunklen Raum angegriffen wurde“. Am Sonntag, den 15. Oktober 2023, wird sie um 20 Uhr im Theatertreff (Neubrückenstraße 63) aus ihrem Buch lesen, das als ein wehmütiger Abgesang auf eine einst gemeinschaftsstiftende Institution „gehört“ werden kann.

Esther Kinsky wurde 1956 in Engelskirchen geboren und wuchs im Rheinland auf. Für ihr umfangreiches Werk, das Lyrik, Essays und Erzählprosa ebenso umfasst wie Übersetzungen aus dem Polnischen, Russischen und Englischen, wurde sie mit zahlreichen namhaften Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Paul-Celan-Preis, zuletzt mit dem Kleist-Preis 2022. Als Poetin war sie 2015 Gast des Münsteraner Lyrikertreffens. Auf einer Reise durch den Südosten Ungarns macht die Erzählerin in einem fast ausgestorbenen Ort an der Grenze zu Rumänien Station. Resignation und Vergangenheitsglorifizierung beherrschen die Gespräche der Bewohner. Wie vieles andere ist auch das Kino, ungarisch „Mozi“, längst geschlossen. Einst Mittelpunkt des Ortes, spielt es nur mehr in den Erzählungen und Erinnerungen der Verbliebenen eine wichtige Rolle. Ihre eigene Leidenschaft für das Kino bewegt die Erzählerin dazu, das vor sich hin verfallende „Mozi“ wieder zum Leben zu erwecken. In ihrem neuen Buch erzählt Esther Kinsky von der unwiderstehlichen Magie des Kinos, eines Ortes, „wo Witz, Entsetzen und Erleichterung ihren gemeinschaftlichen Ausdruck fanden, ohne dass die Anonymität im dunklen Raum angegriffen wurde“. Aller glühenden Kinobegeisterung und dem Nachdenken über den „großen Tempel des bewegten Bildes“ liegt die Frage zugrunde: Wie ist ein „Weiter Sehen“ und eine Verständigung darüber möglich, wenn der Ort einer gemeinsamen Erfahrung zugunsten einer Privatisierung von Leben und Erleben demontiert ist? Ein Frage, die weit über die Situation des Kinos hinausgeht. „Weiter Sehen“ beschwöre noch einmal das Kino als einen Ort, der ungezählten Einsamkeiten, Hoffnungen, Träumen Obdach geboten habe, schrieb Paul Ingendaay in der FAZ: „Doch es gibt kein Zurück. Durch die Schönheit von Esther Kinskys Sätzen schimmert eine Untröstlichkeit, die wir erst beim Lesen ganz erfassen können.“



Am 11. Juni erhält sie den Düsseldorfer Literaturpreis – für ein Buch, das in diesem Frühjahr bereits den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik erhalten hat. Ein paar Tage vorher, am Freitag, dem 8. Juni 2018, wird sie um 20 Uhr im Lesesaal der Stadtbücherei aus ihrem „Geländeroman“lesen, der den lakonischen Titel „Hain“ trägt.

Esther Kinsky wurde 1956 in Engelskirchen geboren und lebt in Berlin. Für ihr umfangreiches Werk, das Übersetzungen aus dem Polnischen (Hermann Hesse Preis 2018), Russischen und Englischen ebenso umfasst wie Lyrik, Essays und Erzählprosa, wurde sie vielfach ausgezeichnet. Ihre letzten Veröffentlichungen sind „Naturschutzgebiet. Gedichte und Fotografien“ (2013), der Roman „Am Fluss“ (2014) und, gemeinsam mit Martin Chalmers, die zweistimmige Reiseerzählung „Karadag Oktober 13“ (2015). Die Autorin wurde mehrfach ausgezeichnet; 2015 erhielt sie den Kranichsteiner Literaturpreis sowie den Preis der SWR-Bestenliste für „Am Fluss“. Im gleichen Jahr war sie Gast des Lyrikertreffens Münster. Zum Sommersemester 2016 übernahm Kinsky die auf ein Jahr befristete Thomas Kling-Poetikdozentur an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Drei Reisen unternimmt die Ich-Erzählerin in Esther Kinskys „Geländeroman“. Sie reist allein. Ihr Mann, mit dem sie gerne reiste, ist kürzlich gestorben. Die Reisen führen sie nach Italien, doch nicht an die bekannten, im Kunstführer verzeichneten Orte, nicht nach Rom, Florenz oder Siena, sondern in abseitige Landstriche und Gegenden – nach Olevano Romano etwa, einer Kleinstadt in den Hügeln nordöstlich der italienischen Hauptstadt gelegen. Oder in die Valli di Comacchio, die Lagunenlandschaft im Delta des Po, eine halb von Vögeln beherrschte Wasserwelt, halb dem Wasser abgetrotztes Ackerland. Zwischen diesen beiden Geländeerkundungen im Gebirge und in der Ebene führt die dritte Reise die Erzählerin zurück in die Kindheit. Wie bruchstückhafte Filmsequenzen tauchen die Erinnerungen an zahlreiche Fahrten durch das Italien der Siebzigerjahre auf, dominiert von der Figur des Vaters. Esther Kinskys Streifzüge und Wanderungen – die gegenwärtigen und die erinnerten - sind Italienische Reisen ganz eigener Art. Sie erkunden mit allen Sinnen äußeres Terrain und führen doch ins Innere, zu Abbrüchen der Trauer und des Schmerzes und zu Inseln des Trostes. Der einfühlsame, präzise Blick der Reisenden entlockt jedem Gelände, was eigentlich im Verborgenen liegt: Geheimnis und Schönheit. Die Jury in Leipzig hat ihre Wahl so begründet: „Was für eine Schule der Wahrnehmung. In der Reizreduktion zeigt sich jedes noch so unscheinbare Detail mit geradezu übersinnlicher Genauigkeit; die Tonlosigkeit steigert sich zum Gesang der Dinge. Im Ähnlichen entdeckt sie das immer Andere. Man wird der unspektakulären Melodie dieses Buches und der rhythmischen Präzision seiner Sätze nur gerecht, wenn man es langsam liest: mit einer Geduld, die nichts erwartet, und gerade deshalb mit einem Staunen über die Fülle seiner Einzelheiten belohnt wird.“