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Natascha Wodin
In diesem frühen Büchersommer gibt es zwei literarische Neuerscheinungen, vor deren Radikalität ein Montaigne-Zitat warnen könnte: „Dies ist ein aufrichtiges Buch, Leser, es warnt dich schon beim Eintritt.“ Die F.A.Z. hat diesen Satz in Erinnerung gerufen mit Blick auf das eine dieser Bücher: „Sturz durch alle Spiegel“ von Ursula Priess, der Tochter von Max Frisch. Auch in dem zweiten Buch steht ein „wirklicher“ Schriftsteller im Vordergrund. Es stammt von Natascha Wodin, und der Autor, dem dieser „Roman“ gilt, heißt Wolfgang Hilbig. Am Donnerstag, den 25. Juni wird Natascha Wodin um 20 Uhr im Lesesaal der Stadtbücherei aus ihrem Roman „Nachtgeschwister“ lesen. Es ist ein Buch, das die andere Version der Geschichte präsentiert, die der 2007 gestorbene Wolfgang Hilbig in seinem Roman „Das Provisorium“ erzählt hat. Wer am 25. Mai 2000 in der Stadtbücherei Hilbig – damals ebenfalls Gast des Literaturvereins – aus diesem Roman lesen gehört hat, wird dessen belegte sächsische Stimme noch im Ohr haben. (Beim letzten Lyrikertreffen hat Uwe Kolbe Leben und lyrisches Werk des Büchnerpreisträgers porträtiert.)Bei der 1945 geborenen Natascha Wodin finden sich die Spuren von Leben und Werk Wolfgang Hilbigs in der Figur des Leipziger Dichters Jakob Stumm. Zufällig fällt der Ich-Erzählerin ein angegilbtes Taschenbuch Stumms in die Hand: „Ich schlug es auf und war wie vom Blitz getroffen. Schon von den ersten Zeilen, auf die mein Blick gestoßen war, ging eine Kraft aus, ein Licht, eine Dunkelheit, ein Schmerz, eine Wucht, dass ich zurückprallte.“ Gedichtzeilen, die ein Leben verändern: „Es waren die Worte eines Verkannten und Verbannten, die Klopfzeichen eines Unterirdischen, eines Verschütteten, die ich vernommen hatte. Klopfzeichen die mir galten, ich wusste es, ich wusste es mit einer Sicherheit wie noch nie etwas vorher. Wie sollte ich ihm mitteilen, dass ich ihn gehört hatte, dass er ein Gefundener war.“ Der Roman handelt von nichts anderem als der wahnhaft selbstlosen bis hellsichtig selbstzerstörerischen Suche nach dem wirklichen Ich hinter dem lyrischen Ich. Er erzählt eine Passionsgeschichte, in der Liebe zugefügt wird und Leid geschenkt, Anziehung und Abstoßung Synonyme sind – eine Liaison auf Schreiben und Tod. Und es ist staunenswert, dass Natascha Wodins Geschichte zweier Königskinder, die auf die allerverzweifeltste und „klammerndste“ Weise zueinander nicht kommen können, ihrem monströsen „Material“ nicht erliegt. Wodin zitiert einmal Imre Kertész: „Ich wage zu behaupten: Nahezu alles Wissen, das nicht Wissen um uns selbst ist, ist umsonst.“ Und später Goethe: „Man kennt nur diejenigen, von denen man leidet.“ Wodins Roman ist auch eine sprachlich meisterlich beherrschte Suche nach der verlorenen conditio humana. Er verdient es, an den ganz großen Beispielen einer „aufrichtigen“ Weltliteratur gemessen zu werden. Wer prüfen will, ob Literatur wirklich eine „Axt für das gefrorene Meer in uns“ (Kafka) ist, darf Wolfgang Hilbigs „Das Provisorium“ und Natascha Wodins „Nachtgeschwister“ nicht scheuen.