LiteraturvereinLiteraturverein LogoBuchseite

Wilhelm Genazino

Vor fast 20 Jahren – 1994 – ist es im Münsteraner Verlag Kleinheinrich erschienen, sein Autor ist in diesem Jahr 70 geworden, jetzt präsentiert er das Buch aus gegebenen Anlässen. Am Donnerstag, den 21. März 2013 liest um 20 Uhr im Stadtmuseum Münster (Salzstraße 28) der Büchnerpreisträger Wilhelm Genazino aus seinem Essay „Das Bild des Autors ist der Roman des Lesers“. Dies ist eine Veranstaltung in Kooperation mit dem Stadtmuseum Münster; die Lesung findet statt im Rahmen der Ausstellung „DichterOrte – Zeichnungen von Rolf Escher“ (16. März-16. Juni 2013; Eröffnung am 15. März um 19 Uhr).

Wo Escher in die Arbeitszimmer der Dichter hineinzuschauen scheint, blicken uns in Genazinos Aufsatz die Dichter entgegen, und es ist eine inspirierende Entscheidung des Verlegers, dieses Buch ohne ein einziges Bild eines Autors zu präsentieren – mit einer Ausnahme, dem Umschlagfoto, das Genazino so beschreibt: „Wir sehen darauf den auf seiner Schreibtischplatte hingekauerten Strindberg, der Kopf liegt auf den zusammengelegten Händen, die stets zerzauste Frisur kündet vom allzeit düsteren Gemüt. Diesen Verzweiflungskitsch hat Strindberg auch noch arrangiert mit dekorativen Beigaben, die die Foto-Zerrüttung endgültig als gestellt und, mehr noch, als gespielt dekouvrieren.“ Mit erhellender Sorgfalt „liest“ und „vergegenwärtigt“ Genazino Fotos von Autoren wie Franz Kafka und Sigmund Freud, Joseph Roth und Arthur Schnitzler und eröffnet auf diese Weise neue Zugänge zu deren Werken.

Die Anwesenheit der Abwesenheit hat offenbar auch den 1936 geborenen Zeichner Rolf Escher „bewegt“. Mit Stift und Skizzenblock hat er sich zu den Schreib- und Inspirationsorten deutscher Dichtkunst begeben. Er zeichnete in den erhaltenen Häusern, Wohnungen und Arbeitszimmern z.B. von Johann Wolfgang von Goethe, Annette von Droste-Hülshoff, Theodor Storm, Thomas Mann, Hermann Hesse und Bert Brecht. Seine Blätter deuten Geschichte und Geschichten an, die nicht erzählt werden, den Betrachter aber dazu anregen, nach ihnen zu forschen oder sie zu erfinden. Insofern mag auch auf die Zeichnungen von Rolf Escher zutreffen, was Wilhelm Genazino als Bilanz seiner „Bildbetrachtungen“ so zusammenfasst: „Es kommt darauf an, dass für den Leser, der die Abwesenheit der Autoren durchbrechen will, eine phantasierbare Linie zwischen Buch und Autor leicht möglich sein soll, eine Linie, deren Qualität in der Undeutlichkeit liegt, die sie mitteilt. Dieses Verbindungsstück stiftet auch hier das Foto. Wir sehen wieder nur ein Bild und sehen doch zugleich viel mehr als ein Bild, in diesem Spielraum trägt sich der Roman des Lesers zu.“




Im letzten Jahr ist er mit dem wichtigsten deutschen Literaturpreis ausgezeichnet worden, „belohnt für sein Schauen“, hat die „Süddeutsche Zeitung“ geschrieben. Und sein neues Buch, das in diesem Frühjahr erschienen ist, hat in der Kritik ein begeistertes Echo gefunden. Wilhelm Genazino ist lange Jahre eine Art Geheimtipp gewesen, mancher Leser, der sich erst jetzt mit dem 1943 in Mannheim geborenen Autor zu beschäftigen beginnt, wird sich wundern über die das umfangreiche Werk, das seit 1965 – als sein erster Roman „Laslinstraße“ erschien - den heute so populären Romanen vorausgegangen ist, es ist die legendäre „Abschaffel“-Trilogie, die in den späten siebziger Jahren die Welt der Angestellten beleuchtet hat; es sind wunderbare Prosaminiaturen zu trivialen und erhabenen Postkarten, es sind eigensinnige Aufsätze, die sich immer wieder mit Fragen der Wahrnehmung und des Lächerlichen beschäftigen. Einer von diesen Essays ist in Buchform erstmals in dem Münsteraner Verlag Kleinheinrich erschienen – mit dem Titel „Das Bild des Autors ist der Roman des Lesers.“

Unverdient spät hat Genazino eine breitere Aufmerksamkeit gefunden mit seinen letzten Büchern, die seit 2001 im Hanser Verlag erscheinen. Es sind Romane mit suggestiv geheimnislosen oder anarchisch verschmitzten Titeln: „Ein Regenschirm für diesen Tag“, „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ und jetzt „Die Liebesblödigkeit“. Und es sind Romane, die nicht gegen Windmühlen kämpfen, sondern – wahrlich mit dem Elan eines Don Quichotte - für das Individuum im Zeitalter der Cholera. Ein neuer Band mit Aufsätzen – die jenem Kampf einen unangestrengt begrifflichen Begleitschutz geben - ist ebenfalls vor kurzem erschienen, er trägt den bezeichnenden Titel: „Der gedehnte Blick“.

Die Rezensionen zu dem Roman „Die Liebesblödigkeit“ - der die Geschichte eines alternden Mannes erzählt, der sich zwischen zwei Frauen nicht entscheiden will - haben mit dazu beigetragen, dass Wilhelm Genazino sich rasch auf den Bestsellerlisten platzieren konnte. Hier ein paar Stimmen:
„Man kann den Genazino-Blick auf die Dinge des Alltags durchaus als skurril und sonderbar empfinden, als Sonderlinge gehen seine Helden sehr bewusst und selbstbewusst durch die Welt. Es ist ein stiller Abwehrkampf gegen die Behauptung, dass das Individuum austauschbar geworden sei“ (Volker Hage im „Spiegel“);
„Genazinos Buch mag auf den ersten Blick etwas zurückschrecken lassen, weil uns seine Figuren in ihrem gepflegten Lustschmerz maßlos lächerlich vorkommen. Wer einen zweiten, genaueren Blick wagt, entdeckt ein ergreifendes Protokoll der Melancholie, das sprüht vor Witz und Esprit“ (Roman Bucheli in der „Neuen Zürcher Zeitung“);
„Seine sympathisch verschroben Helden treiben sich im Alltag der Existenz herum, rackern sich an der ‚Gesamtmerkwürdigkeit de Lebens’ ab und gehen trotzdem nicht unter“ (Susanne Kunkel in der „Welt am Sonntag“);
„Und überhaupt ist (Genazino) ein Beispiel. Ein Beispiel für heiteres Darüberstehen ebenso wie für hohe Sprachkultur. Das macht ihn zu einer nahezu singulären Erscheinung in der deutschen Literatur der Gegenwart“ (Tilman Krause in der „Welt der Literatur“).
Einführung und Moderation: Hermann Wallmann, Literaturverein Münster.